Ein Gespräch mit Ganga Murthy über die Geschichte des Frauenwahlrechts und die Rolle der Frau in Indien.
Die Geschichte des Frauenwahlrechts in Indien ist eng verwoben mit dem Kampf für die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht England. Bis zur Unabhängigkeit 1947 hatten weder Frauen noch Männer ein allgemeines Wahlrecht. Heutzutage ist die Rolle der Frau in Indien sehr ambivalent.
„Die Emanzipation von Frauen in Indien ist teils in den Kinderschuhen und teils weit fortgeschritten.“ - Die Rolle der Frau in Indien
Mit einer Fläche von mehr als 3.2 Millionen Quadratkilometern zählt Indien zu den größten Ländern der Erde. Dies spiegelt sich auch in Kultur und Gesellschaft des Landes wider. Eine einheitliche Aussage zu Indien ist kaum möglich; es herrschen heterogene Bedingungen, besonders zwischen Metropolen und Dörfern gibt es große entwicklungstechnische Unterschiede.
Das zeigt sich auch in der Rolle der indischen Frau. „Man begegnet Fortschritt und Unterentwicklung gleichzeitig auf politischen, wirtschaftlichen, regionalen und sozialen Gebieten. Dieses Nord-Süd-Gefälle bedeutet unterschiedliche Chancen und Herausforderungen für Frauen in den Metropolen und Dörfern“, erklärt die indisch-stämmige Ganga Murthy.
Von der Indischen Frau lässt sich nicht sprechen. Die Rolle variiert von traditionell bis emanzipiert. „Die Emanzipation von Frauen in Indien ist teils in den Kinderschuhen und teils weit fortgeschritten.“ In den ländlichen Regionen leben die Frauen in Indien zum Teil noch in Verhältnissen des 19. Jahrhunderts. Zwar gilt die Frau auch in traditionsgebundenen Familien als Rückgrat der Familie, wird gesellschaftlich jedoch nicht als gleichwertig betrachtet.
In den Städten hingegen sind die Frauen emanzipierter, gut ausgebildet und stark vertreten in Politik und Wirtschaft. „Frauen in den Metropolen haben grundsätzlich mehr wirtschaftliche und soziale Optionen als Frauen in den Dörfern. Dadurch haben sich Frauen in verschiedenen Regionen unterschiedlich stark behauptet.“
Auch in der Politik haben Frauen formal eine gute Stellung. Sie haben ein gleichwertiges Wahlrecht, Abtreibung ist legal und es gibt ein eigenes Frauenministerium (Ministry of Women and Child Development). Mit Indira Gandhi wurde das Land 15 Jahre lang von einer Premierministerin geführt (1966-1977 und 1980-1984). Für Kommunalwahlen gibt es eine Frauenquote von 33 Prozent. „Diese Entwicklung wird teilweise positiv akzeptiert und hat zur Emanzipation von vielen Frauen beigetragen“, berichtet Ganga. Diese Emanzipation wird auch durch das Wahlrecht allgemein bestärkt. „Das Bewusstsein über dieses Wahlrecht ist in den letzten 20 Jahren erheblich angestiegen und dieses Recht wird gerne in Anspruch genommen. Viele Frauen sehen Wahlen als die Möglichkeit ihre Stimme kundzutun.“
„Indiens Wahldemokratie ist kein Erbe des Kolonialismus.“ - Indiens Wahlrechtsbewegung
„Indiens Wahldemokratie ist kein Erbe des Kolonialismus“, betont Ganga Murthy. Sogar ganz im Gegenteil! Die ersten frauenrechtlichen Bewegungen begannen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Gruppierung „Brahmo Samaj“ der indischen Oberschicht setzte sich beispielsweise für eine Verbesserung der Situation bengalischer Frauen ein und ermöglichte den Ausbau von Schulen. „Dies führte dazu, dass bengalische Frauen mit der Zeit Führungsrollen in den Bewegungen für Bildung und sozialen Reformen übernahmen.“
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden mehrere Frauenorganisationen gegründet und das weibliche Engagement festigte sich.
Während die Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts eher für regionale Veränderungen kämpfte, war der Frauenaktivismus des 20. Jahrhunderts mit der Unabhängigkeitsbewegung verknüpft. Ab 1919 durften die indischen Provinzen selbst über ein geschlechtergerechtes Wahlrecht entschieden. Madras war die erste Provinz die davon Gebrauch machte. 1921 wurde dort Frauen das Wählen ermöglicht. Bis 1937 folgten auch alle anderen Provinzen. Doch dieses Wahlrecht unter der britischen Besatzung war sowohl für Frauen als auch für Männer an das Grundeigentum gebunden, ein allgemeines Wahlrecht gab es also nicht. Jedoch: „Diese Teilfortschritte und Entwicklungen trugen zur Überwindung der Kolonialherrschaft bei.“
Erst in der neuen Verfassung des unabhängigen Indiens von 1950 wurde Frauen und Männern ein allgemeines gleichberechtigtes Wahlrecht eingeräumt. „Frauenrechtlerinnen trugen dann zwischen 1947 und 1950 dazu bei, dass die politischen und sozio-ökonomischen Belange von Frauen in der Verfassung berücksichtigt wurden.“
Die „Nachtigall Indiens“ - Das politische Engagement von Sarojini Naidu
Eine Rolle im Kampf für die Unabhängigkeit und Frauenrechte spielte Sarojini Naidu. „Sie war eine Frauenrechtlerin, Dichterin, die erste weibliche Präsidentin des Indisch Nationalen Kongresses und die Gouverneurin eines indischen Staats“, erzählt Ganga.
Naidu wurde 1879 geboren, studierte in Indien und England. Dort lernte sie die britische Frauenwahlrechtsbewegung, das Suffragist Movement, kennen. Zurück in Indien half sie die Womens India Association aufzubauen.
„Sie glaubte an ‚Sathyagraha’, den passiven politischen Widerstand, und war eine Anhängerin des Freiheitskämpfers Gandhi. […] Sie wurde mit der Zeit eine Schlüsselfigur des indischen Freiheitskampfes.“
Sarojini Naidu setzte sich außerdem für eine friedliche Einigung zwischen Muslimen und Hindus ein, für die Wiederverheiratung von Witwen und nahm am Salzmarsch von Dandi teil. Für ihr Engagement wurde sie mehrfach inhaftiert. Trotzdem erfreute sie sich neben ihrer Popularität durch ihren Aktivismus auch einer großen Beliebtheit als Dichterin. Noch heute ist sie als „Nachtigall Indiens“ bekannt, 2019 feierte Indien ihren 140. Geburtstag.
Naidu ist jedoch bei weitem nicht die einzige starke Aktivistin Indiens. „Sarojini Naidu ist ein Vorbild aber nicht das einzige Vorbild für indische Frauen“, berichtet Ganga. Wie in anderen Ländern gibt es auch in Indien viele Aktivistinnen, die sich für verschiedene Themen einsetzen.
„Das Wahlrecht ist das höchste politische Recht, das dem Bürger eines Landes gewährt wird.“ - Wahl- und Arbeitsrecht für Zugewanderte
Wofür Frauen in Indien lange gekämpft haben, bleibt vielen Migrant:innen in Deutschland verwehrt: Wer keinen deutschen Pass hat darf auch nicht wählen. Für Ganga Murthy hat das Wahlrecht eine große Bedeutung. „Das Wahlrecht ist das höchste politische Recht, das dem Bürger eines Landes gewährt wird.“ Für sie ist es jedoch wichtig, dass wer ein Wahlrecht hat, auch ein Bewusstsein für die deutsche politische Szene hat und sich auf Grund dessen eine fundierte Meinung bilden kann. „Hierzu sollte meiner Meinung nach die Kenntnis der deutschen Sprache vorhanden sein sowie eine Teilintegration bereits erreicht sein.“
Wichtiger für den Beginn einer guten Integration ist für Ganga die Möglichkeit zu arbeiten, um die sozialen Gefüge des Landes kennenzulernen, aber auch, um wirtschaftlich unabhängig zu sein. „Migrantinnen sollten sobald wie möglich, innerhalb von einem Jahr arbeiten dürfen. Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Integration und die Bereitschaft zu integrieren am höchsten in den ersten Jahren nach der Migration ist.“
Der Kontakt, der dadurch zu deutschen Bürger:innen entsteht, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei der sozialen Integration.
Ganga Murthy ist studierte Volks- und Betriebswirtin. In Indien und Deutschland arbeitete sie in der Marktforschung und war im Controlling und Finanzbereich bei einem Industrieunternehmen tätig. Seit ihrem Ruhestand schreibt Ganga Essays über ihr Herkunftsland Indien und Artikel für das Magazin „Südasien“.